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Das Gämshorn

Ich Das Gämshorn

Das Gämshorn ist eine spätmittelalterliche Gefässflöte, deren Korpus aus einem Tierhorn gefertigt wurde. Es gehört zu den Schnabelflöten wie die Blockflöte und die Okarina: Das sind Flöten, deren Mundstück vom Spieler zwischen die Lippen genommen wird. Der durch die Kernspalte geformte Luftstrom trifft auf eine Schneidekante, wodurch die Schwingung der Luftsäule entsteht.

Schnabelflöten können aus verschiedenen Materialien gefertigt werden. Mit Vorliebe wurde einst natürliches Rohmaterial verwendet, das bereits hohl gewachsen war oder ohne grosse Mühe ausgehöhlt werden konnte: Schilfrohr, Holunder, Knochen oder Tierhörner.

Ein Tierhorn hat, nach dem Entfernen des Hornzapfens und anhaftender Bindegewebsreste, einen natürlichen umgekehrt konischen Hohlraum, ist also ein „Gefäss“, das sich zur Herstellung eines Blasinstrumentes anbietet: Der dicke Teil des Horns wird verschlossen und mit Windkanal und Labium versehen.

Nachdem im Mittelalter Hörner von Gämsen, Ziegen oder Schafen benützt wurden, baut man heute Instrumente aus Rinderhörnern, die grössten unter ihnen stammen von Watussi-Rindern aus Afrika. So setzt sich die Gämshorn-Familie aus bis zu sechs verschieden grossen Instrumenten zusammen, die, obwohl nicht aus Gämshörnern gefertigt, noch immer „Gämshorn“ genannt werden. Zudem wurde ein Orgelregister nach diesen Instrumenten benannt.

Die früheste Abbildung eines Gämshorns findet sich im „Heidelberger Totentanz“, einem Holzschnitt aus dem Jahre 1484. 1511 ist das Gämshorn in „Musica getutscht“ vertreten, einem der ältesten, ausschliesslich der Instrumentenkunde gewidmeten Bücher. In einer späteren Ausgabe (1545) fehlt das Instrument dann jedoch: Offenbar ist es inzwischen aus der Mode gekommen.

1913 wurde im Königlichen Zeughaus von Berlin ein Ziegenhorn entdeckt, das einst in eine Schnabelflöte umgewandelt worden war. Es entspricht den bildlichen Darstellungen aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, lässt sich aber nicht mehr anblasen.

Weitere Tierhorn-Originale aus der Zeit sind nicht vorhanden, wohl aber ein Gämshorn aus gebranntem Ton, welches in Ochsenfeld (Bayern) gefunden wurde. Es lag vergraben unter einem Fachwerkhaus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, muss also schon vor diesem Zeitpunkt in die Erde gekommen sein. Das Instrument ist unzerbrochen erhalten und kann noch angeblasen werden. Es ist somit das einzige, bisher gefundene, unbeschädigte Gämshorn aus dem Mittelalter. Dies wohl nicht zuletzt, weil das Material „Ton“ den Jahrhunderten erfolgreicher trotzt als ein Tierhorn!

Link: Windkanal Ausgabe 2/2001